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Es ist die Zeit, wo der Sommer endet und der Herbst beginnt, die Sonne allmählich ihre Kraft verliert und nur ihr Licht behält. Es gibt noch Bäume so grün, dass man sich über die wahre Jahreszeit täuscht. Andere sind schon rotbraun oder ganz goldgelb, wieder andere so kahl, als hätten sie sich allzu rasch dem noch fernen Winter ergeben.

Willem glaubt den Wandel körperlich zu spüren, den Boden unter seinen Füßen, der noch ganz weich ist, aber auch schon kalt. Und er schmeckt die Luft, die bereits malzig rau ist vom nahen Herbst.

Lange hat er gezögert, in den Holland Park zu gehen, aus Furcht. Es ist die gleiche Furcht wie vor einer großen Entscheidung, der man so lange wie möglich ausweicht. Willem vermeidet die Wege, geht über die Wiesen, fühlt kaum den sanften Wind, als wehe er durch ihn hindurch, als sei er nichts.

Aber warum hätte er nicht hierhin kommen sollen? Was hat er zu fürchten? Nichts, sagt sich Willem, gar nichts. Alles hat sich glücklich gefügt, Hewitts Tod, auch Nikitas Ableben, der Geldsegen, alles hat sich gefügt wie von selbst.

Zum ersten Mal fällt Willem auf, dass viele Bänke im Holland Park Inschriften tragen. Er hat sie schon oft gesehen, aber ihnen nie Beachtung geschenkt. Auf manchen steht nur ein Name, vielleicht noch das Geburtsjahr und das Sterbejahr, auf manchen noch ein Zusatz wie »In Liebe« oder »In liebender Erinnerung an…« oder »Zum Gedenken an…«.

Was bewegt Menschen, einem Toten eine Bank zu stiften? Trauer? Dankbarkeit? Doch wen interessiert es, dass eine Mary Soundso hier oft saß, weil sie die Blumen liebte? Willem ärgert sich, dass ihm Sentimentalität fremd ist. Er fühlt sich von etwas ausgeschlossen, was andere verbindet. Aber alles wird sich nun ändern.

Er hat den Holland Park durch den nördlichen Eingang betreten. Er wollte nicht durch Phillimore Gardens gehen. Aber nun lenkt er seine Schritte oder lenken seine Schritte ihn zum Holland Walk, der hinter dem Haus der Hewitts vorbeiführt. Und dann – noch in weiter Ferne – erkennt er Patricia, die Tochter, wie sie mit ihrem Hund auf dem Rasen spielt. Auch andere Kinder beteiligen sich an dem Spiel. Sie schießen einen Ball hin und her, dem der Hund aufgeregt folgt, bellend hinterher springt.

Mit weiten, leichten Schritten, seinen Schirm spielerisch in den Händen haltend, geht Willem weiter. Ist nicht alles geschehen, nur damit er sich Anne-Marie nähern kann? Er weiß, dass gleich der Augenblick kommt, auf den er die ganzen Wochen und Monate gewartet hat, auf den er hin gelebt hat.

Dann sieht er Anne-Marie links auf einer Bank, die direkt gegenüber einem Zaun steht, der den Rasen vom Holland Walk trennt. Sie sitzt da, wie sie damals auf der Bank gesessen hat, als er sie das erste Mal sah und noch nichts von ihr wusste, nicht einmal ihren Namen. Wieder sitzt sie kerzengerade da, den Rücken durchgedrückt. Ihre Hände ruhen auf den Knien. Doch sie ist nicht mehr die Sphinx, schon lange nicht mehr. Denn jetzt weiß er alles über sie. Sie bräuchte nichts zu sagen, weil er alles schon kennt, ihre ganze Geschichte. Er könnte einfach weitergehen. Sie würde ihn nicht aufhalten. Aber dann wäre alles umsonst gewesen.

Willem geht direkt auf ihre Bank zu. Sie trägt schwarz wie in seinen Träumen, einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze enge Hosen. Ihr dickes blondes Haar fällt ihr offen über die Schultern, weht weich im Wind.

»Entschuldigen Sie, bitte. Darf ich mich setzen?«, spricht Willem sie auf Französisch an.

Warum spricht er französisch? Er könnte sich auf die Zunge beißen.

»Bitte, ich habe nichts dagegen«, antwortet sie mit ihrer hellen, aber festen Stimme, ebenfalls auf Französisch.

In dem Augenblick, als Willem Platz nimmt, glaubt er, dass er sein ganzes Leben nur gelebt hat, um jetzt hier auf dieser Bank zu sein, dass alles auf diesen Augenblick hinausgelaufen ist, dass der Lauf der Dinge ihn hierhin getragen hat, ganz ohne sein Zutun. Willem lehnt sich zurück, wagt es, ab und zu einen vorsichtigen Blick auf Anne-Marie zu werfen. Verlegen umfassen seine Hände den Schirm. Anne-Marie verfolgt aufmerksam das Spiel der Kinder. Ihre Augen wandern bei jeder Bewegung ihrer Tochter mit.

Dann fragt sie Willem plötzlich, auf Englisch: »Stört es Sie, wenn ich rauche?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Sie holt aus ihrer Handtasche, die links von ihr auf der Bank liegt, eine Packung Zigaretten hervor, zündet sich eine Zigarette an.

»Möchten Sie vielleicht auch eine?«

»Danke, sehr gerne.«

Sie reicht ihm die Packung, ohne ihn richtig anzusehen. Sie hält ihm ihr Feuerzeug hin.

»Danke«, sagt Willem wieder, wiegt das Feuerzeug kurz in seiner Hand, bevor er es zurückgibt. »Ein schönes Stück. Ein Dupont?«

»Ja, es hat meinem Mann gehört«, sagt sie wie nebenbei, ohne jede Trauer. Und als wollte sie eine Frage beantworten, sagt sie noch: »Mein Mann ist tot.«

»Das tut mir Leid, entschuldigen Sie.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie konnten es ja nicht wissen.« Dann spricht sie weiter, ganz ruhig, beinahe mechanisch, ohne jedes Gefühl. »Ja, mein Mann ist tot. Seit zwei oder drei Monaten. Ich weiß es nicht genau.«

»Das tut mir Leid«, wiederholt sich Willem.

Anne-Marie sagt, als wolle sie ihn beruhigen: »Es ist schon gut. Alles ist vorbei.«

Eine Weile sitzen sie schweigend da. Aber es herrscht keine peinliche Stille zwischen ihnen, eher eine stille Vertrautheit. Wolken verdunkeln plötzlich die Sonne, und einzelne Tropfen kündigen einen Schauer an.

»Ich glaube, ich muss gehen«, sagt Anne-Marie mit einem Blick auf ihre zierliche Uhr.

»Darf ich Sie irgendwo hinbringen?« Willem öffnet seinen Schirm. »Ja, danke, sehr gerne. Ich wohne gleich hier.« Beinahe hätte Willem geantwortet: »Ich weiß.« Und Anne-Marie sucht Schutz unter seinem Schirm, hakt sich bei ihm ein, als ob alles ganz selbstverständlich sei, während Patricia mit ihrem Hund spielend vor ihnen herläuft.